Heute geht es um den großen Traum vom Reich-und-berühmt-Werden. Wahrscheinlich gab es gefühlt noch nie so viele Superstars, von denen keiner genau weiß, was sie eigentlich dazu macht, in welcher Disziplin sie sich herausragende Talente oder Verdienste zugutehalten können. Noch nie gab es so viele Superstars wie heute!
Es scheint um den schönen oberflächlichen Glanz zu gehen – reich und berühmt sein, allein um des Reich-und Berühmt-Seins willen sozusagen – also: Wie werde ich ein Glanz/ein Star, nur um ein Star zu sein!?
In dem Roman von Irmgard Keun, Das kunstseidene Mädchen, geschrieben im Jahr 1932 – also zum Ende der Weimarer Republik, als das drohende Unheil schon nicht mehr zu übersehen war –, geht es um die 18-jährige Doris, die genau diesen Traum mit den seinerzeit zur Verfügung stehenden Mitteln zu verwirklichen versucht.
Als ich dieses Buch – damals selber nur unwesentlich älter als Doris in dem Roman – las, war es für mich wie eine Ohrfeige und Trost zugleich, weil es so sehr die naiv-verzweifelte Sehnsucht nach Ruhm und Reichtum, die gleichzeitige Hilflosigkeit entlarvte, die ich damals auch in mir spürte.

Die Sprache, so modern und schnoddrig, wie man nur mit sich selbst redet, und doch die Inszenierung des eigenen Selbstbildes immer schon clever mitgedacht, in einer Art Steno-Pop-Art-Stil traf auf schmerzhafte und peinlich berührende Weise genau meinen Nerv.
„Das war gestern Abend, so um zwölf, da fühlte ich, dass etwas Großartiges in mir vorging (…) und von nebenan drang ein Grammophon zu mir, und da ging etwas Großartiges in mir vor – wie auch früher manchmal – aber da doch nie so sehr. Ich hatte das Gefühl, ein Gedicht zu machen, aber dazu hätte es sich womöglich reimen müssen und dazu war ich zu müde.“
Das nennt man heute eine gefühlte Wahrheit – also kein Gedicht machen, weil schon die Vorstellung davon ja auch irgendwie für das gute Gefühl reicht, dass man es theoretisch ja geschrieben hätte, wenn man nicht … was auch immer für eine Ausrede dafür gehabt hätte, es nicht zu tun.
Das ist uns im Grunde auch heute wohlbekannt: Prokrastination – also das ständige Aufschieben eines mehr oder weniger bedeutungsvollen Vorhabens.
Und immer führt man sich selbst und der Umwelt gegenüber „gute Gründe“ dafür an.
Meist geschieht es jedoch aus Mangel an einem echten Plan nebst dazugehörigem Ziel, aus Ablenkung, die heutzutage selbst in der einsamsten Corona-Quarantäne-Bude aus jedem Bildschirm lockt, oder aus Zweifel, ob man für die eigenen hochgesteckten Ziele – die oft ja nicht mal die eigenen sind! – überhaupt gut genug ist.
Findet man aber doch die Chuzpe, den Stier bei den Hörnern zu packen, steht die Wahl der Mittel an.
Die Auswahl kann nur aus dem erfolgen, was einem auch zur Verfügung steht. Im Falle von Doris in besagtem Roman ist es, sich mit einem geklauten Pelzmantel – damit ist man ja schon gefühlt ein Glanz, das schlechte Gewissen mit im Gepäck – von der mittleren Stadt abzumachen in die Hauptstadt Berlin.
„Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris.“
Also? Berlin! – nicht ganz so glamourös, dafür aber greifbar.
Hier spricht sie die Sprache. Hier kann sie es schaffen, ein Glanz zu werden.
„Und dann spreche ich fast ohne Dialekt, was viel ausmacht und mir eine Note gibt, besonders da mein Vater und meine Mutter ein Dialekt sprechen, das mir geradezu beschämend ist.“

Die Mittel der Wahl sind also:
Numero 1 – schon erfüllt –: der geklaute Pelzmantel.
Numero 2: irgendwie mit irgendwas auf die Bühne! … um eine echte Künstlerin zu sein.
Numero 3, da man ja davon nicht leben kann: potentiell reiche Schieber im Kaffeehaus angeln und sich dabei einreden, man hält was auf sich.
Die echte Liebe muss warten und stirbt derweil.

Die Szenen im Kaffeehaus aus Das kunstseidene Mädchen klingen so, als müsste Erich Kästner sie gelesen haben, bevor er den Text zum Chanson Der Abschiedsbrief mit der Musik von Kurt Weill zum selben Thema geschrieben hat.
Erich Kästner beschreibt darin auf berührende Weise die gespielte Schnoddrigkeit, die immer wieder zerbröselt, wodurch sich dahinter die verletzte Seele zeigt. Doch mit forschem Trotz berappelt man sich, schluckt jede Demütigung. Der Traum vom Luxus-Leben als feine Dame ist ja noch nicht ausgeträumt. Die Abhängigkeit vom reichen Schieber wird pragmatisch zugegeben – vielleicht hat er ja Kontakte zum Film! – und die Not zur Tugend gemacht.

„Du glaubst doch nicht, dass sich nicht noch ein Andrer findet. Es gibt noch welche, die bequemer für mich sind. Ich bin nicht stolz, auch wär’ das nicht am Platze. Wenn Du was übrig hast, dann schick es schnell. Mir gegenüber feixt ein Herr mit Glatze. Das ist der Chef von Engelhorns Hotel. Na Schluss, das Visavis von gegenüber fragt, ob ich wollte, denn er möchte schon. Der hat Moneten, so ein alter Schieber. Behalt’ dein Geld, behalt’ dein Geld, und schlaf’ allein mein Sohn. Auch Du bist einer von die feinen Herrn. Der Alte kommt. Er nimmt mich zu sich mit. Rutsch’ mir den Buckel lang, und hab mich gern. Von ganzem Herzen, Deine Erna Schmidt!“

Dieses Lied Der Abschiedsbrief habe ich damals bei meiner Gesangsausbildung am Wiesbadener Konservatorium in einer Aufführung eines Kurt-Weill-Abends der Opernschule gesungen. Und es war eines meiner Schlüsselerlebnisse für meine Faszination für die 1920er Jahre.

Gerade diese Frauenfiguren mit Schnauze aus armen Verhältnissen, voller Elan und Ehrgeiz, aber auch voller Selbstzweifel, Naivität und Orientierungslosigkeit – zum Leben erweckt in der Sprache einer Irmgard Keun oder eines Erich Kästner mit der Musik von Kurt Weill – haben etwas in mir angerührt, dem ich mich zutiefst verbunden gefühlt habe als junge angehende Sängerin und Bühnenkünstlerin aus ebenfalls nicht so wohlhabendem Hause.
So kommt dieses Chanson Der Abschiedsbrief, das den Grundstein für die Gründung meines Berliner Luft Ensembles 1989 gelegt hat, auch in meinem Bühnen-Programm MONDÄN nach all den Jahren nun wieder zu Ehren und schließt damit für mich eine Klammer in meiner eigenen Biographie als Künstlerin.

In unserer Show GLANZ AUF DEM VULKAN ist die Figur Mitzi das Flappergirl, das bei uns von der Tänzerin Kinky la Blanche verkörpert wird, inspiriert von der Romanfigur Doris aus Das kunstseidene Mädchen.
Mit viel Alkohol, Musik, immer auf der Suche nach Zerstreuung und der nächstbesten männlichen Begleitung tanzt sie sich in einem wilden Wirbel um Kopf und Kragen. Bei Doris ahnt man, es geht nicht gut aus.
Doch nicht einmal für großes Drama reicht es am Schluss.
Ein resigniertes Bild, das die Autorin Irmgard Keun für ihre Figur zeichnet, welches sehr realistisch dem entsprach, was einer wie ihr im Jahr 1932 übrig blieb. Einer wie Doris – einer wie Irmgard Keun.

Irmgard Keuns steiler Erfolg als Schriftstellerin mit den beiden Romanen Gigli, eine von uns (1931) und Das kunstseidene Mädchen (1932) hatte gerade begonnenen, da stand sie bei den Nazis schon auf der schwarzen Liste. Heute würde man ihren Stil als Pop-Art bezeichnen – für die Nazis war es „Asphalt-Literatur mit anti-deutscher Tendenz“.
Wie weit Irmgard Keun selbst als wahrhaft starke Frau den Feminismus der 1920er Jahre verkörperte, wird klar zum Beispiel durch ihre mutige Schadensersatzklage an das NS-Regime wegen Verdienstausfalles durch Beschlagnahmung ihrer Bücher. Alle Achtung, Frau Keun! Nur leider ohne Erfolg, wie wir uns denken können. Irmgard Keun überlebte den Krieg mit dem NS-Regime mit falschen Papieren, versteckt in ihrem Elternhaus in Köln – liiert mit Joseph Roth, verheiratet mit dem Schriftsteller Johannes Tralow und als ewige heimliche Geliebte des Arztes Arnold Strauss.
An ihren steilen Aufstieg, den ihr Kurt Tucholsky prophezeit hatte – „Sieh an! Eine Frau mit Humor!!“ – als auch an den Erfolg mit ihren ersten beiden Romanen konnte sie nach dem Krieg nicht mehr anknüpfen.
Immerhin durfte sie in den 1970er Jahren noch die Wiederentdeckung ihrer Bücher erleben.
Bei der Wahl der Mittel, um ein Glanz zu werden, stehen uns heute in den 2020er Jahren gottseidank ganz andere Mittel der Wahl zur Verfügung. Social Media und Handys sind die Kaffeehäuser und Tanzdielen unserer Zeit. Die Flappergirls und Garconnes der 1920er Jahre finden ihr Pendant in den heutigen It-Girls und Influencerinnen. Dabei haben wir es heute glücklicherweise mit dem Puffer des Virtuellen in der Hand, wo wir die Grenze ziehen.

Aber auch heute noch wandeln wir dabei auf einem schmalen Grat bei unserem Streben nach Glanz und Erfolg.
Wie erkennt man, worauf es wirklich ankommt, wenn der Glanz uns blendet?
Wenn es der Glanz von echtem Gold ist, dann wird er immer stärker, je mehr man ihn poliert, weil Gold eben durch und durch aus Gold ist, und Gold liebt die Politur.
Ist der Goldglanz nur eine äußere Schicht, ist die Vergoldung bald abgerieben und billiges Metall, das sich nur spärlich bedeckt hatte, scheint blechern und grell hervor.
Echtes Gold ist wertvoll und nur durch harte Arbeit mit wachsamem Auge und Geist zu schürfen. Man gräbt ewig im Dreck, und findet immer nur ein kleines Klümpchen.
Man findet es nicht, weil man es partout haben will, sondern weil man unermüdlich danach sucht. Und doch weißt Du: Man hat nie alles gefunden, was da im Verborgenen liegt, aber jedes kleine Klümpchen, das man auf diese Art findet, ist echt.

Doris zieht das Résumée: „Auf den Glanz kommt es vielleicht gar nicht so furchtbar an.“
Das kann man sich natürlich sagen und einfach irgendwie weitermachen.
Oder man beginnt damit, nach dem eigenen Glanz in sich zu schürfen und diesen zu einem Schmuckstück aus echtem Gold zu machen.
In diesem Sinne, macht Euch auf die Suche, Ihr Lieben, nach dem echten Glanz im Leben, und fangt einfach bei Euch selbst an!

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Wenn es Euch gefallen hat, freue ich mich, wenn Ihr beim nächsten Mal wieder dabei seid.
Mein Blog & Podcast EVI’s SÉPARÉE erscheint jetzt immer am 1. Freitag des Monats.
Bitte besucht uns auf unserer Homepage www.elastic-tu.94-102-211-149.plesk.page.94-102-211-149.mediagentur-1.vautronserver.de.
Da gibt es neben den immer aktuellen Tournee-Terminen für alle unsere Live-Produktionen auch einiges an Neuigkeiten zu erfahren!
Schon jetzt darf ich verraten, dass dieses Jahr eine Premiere ins Haus steht:
mein neues Solo-Programm MONDÄN – DIE DAME DER 20er JAHRE.
Das genaue Premierendatum werde ich alsbald verkünden – sobald es die Situation erlaubt!
Wenn Ihr die M&G Showcompany mögt und Euch gefällt, was wir machen, dann helft uns bitt’schön dabei, als echter Glanz zu strahlen, durch Euer freundlichstes Posten, Liken, Teilen, Taggen, Streamen, Abonnieren, damit wir immer mehr und mehr werden in meinem Séparée!
Passt auf Euch und Eure Lieben auf, und seid doch einfach mal ganz grundlos nett zu jemand Fremdem – was ein echter Glanz eben so zu tun hat.
Habt alle einen wunderbare Zeit, aufregende Nächte, und immer schön gesund und munter bleiben.

Gruß & Kuss
Eure Evi